Arbeit ohne Arbeitsplatz

Prokrastination Arbeit ohne Arbeitsplatz

Publiziert am 20. September 2021 von Kathrin Passig, Freischaffende Schriftstellerin, generative Künstlerin

Ich habe im Bett, an selbstgewählten Arbeitsplätzen und in Coworking-Spaces gearbeitet. Vom Büroalltag verstehe ich wenig. Aber die Festanstellung wird dem Selbstständigendasein immer ähnlicher. Wir Selbstständigen sind den Festangestellten in manchem Aspekt des aktuellen Arbeitslebens also voraus.

Arbeiten an einem selbstgewählten Ort ist keine Fähigkeit, die man über Nacht erwirbt. Im Büro gibt es viele Strukturen, die den Arbeitstag formen. Sie sorgen nicht immer für die höchste Produktivität, aber doch zumindest dafür, dass man mit seinen Produktivitätssorgen nicht allein ist. Vielleicht hat man nicht mal welche.

Am selbstbestimmten Arbeitsplatz fällt als Erstes das gute Gefühl weg «Ich bin ja am Arbeitsplatz anwesend, also ist alles, was ich tue, Arbeit.» Stattdessen sitzt man zu Hause oder im Café und alles, was man tut, sieht bis zum Beweis des Gegenteils nach Freizeit aus. In jeder Minute muss man sich Rechenschaft darüber ablegen, ob man auch wirklich arbeitet. Auch für andere ist noch weniger sichtbar als vorher, was man da macht, ob es Arbeit ist, und ob es auch genug Arbeit ist.

Die Gewöhnung an die Arbeit in freier Wildbahn hat zwei Teile. Die erste Hälfte besteht aus der Einsicht, dass die Vorgänge, die im Büro selbstverständlich und einfach wirken, nicht so selbstverständlich sind. Wenn sich die Kommunikation mit Mitarbeitenden oder das Abarbeiten von Aufgaben dort unkomplizierter anfühlt, ist das kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis von gewachsenen Strukturen und gemeinsamen Räumen. Auch die Arbeit zu Hause funktioniert nicht ohne solche stützenden Gerüste. Wir müssen sie uns nur erst bauen. Nach dem Ende der Corona-Einschränkungen kann ein Coworking-Space einen Teil der stützenden Bürofunktionen übernehmen: Er sorgt für einen Arbeitsweg, für eine Umgebung aus anderen arbeitenden Menschen und dafür, dass man am Arbeitsplatz vollständig bekleidet ist. Vielleicht gibt es sogar gemeinsame Pausen und produktive Pausengespräche.

Der zweite Teil der Umstellung: Wir brauchen eine realistischere Vorstellung davon, wie viel Arbeit in einen Achtstundentag passt. An herkömmlichen Wissensarbeitsplätzen wird im Schnitt etwa fünf Stunden halbwegs konzentriert gearbeitet. Der Rest ist Füllmaterial. Gelegentlich gelingt es jemandem, in einer Ausnahmesituation – kurz vor einer Deadline, in einem besonders schönen Projekt oder beflügelt durch grosse Kaffeemengen –, acht Stunden lang hart zu arbeiten. Der Normalzustand aber sieht anders aus. Daran hat sich durch den Umzug an den Heimarbeitsplatz nichts geändert. Es ist nicht nur sinnlos, sondern kontraproduktiv, sich Sorgen wegen zu vieler Ablenkungen und Arbeitspausen zu machen. Selbstvorwürfe machen auch Arbeit, sie ziehen Aufmerksamkeit von sinnvolleren Tätigkeiten ab und sie ermüden. Wenn man sie unterlässt, ist man schon fast fertig mit der Heimarbeits-Fortbildung. Jetzt fehlen nur noch ein paar Jahre Übung.


Die Connecta Bern wird auch 2021 aufgrund der aktuellen Lage digital durchgeführt. Die Vielfalt der Digitalisierung, welche die Connecta auszeichnet, wird neben dem Connecta Blog in den Formaten Connecta TV und Connecta Talk aufgegriffen. Hier erfahren Sie mehr: www.post.ch/connecta

Kathrin Passig

Kathrin Passig hat zusammen mit Sascha Lobo das Buch «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin» geschrieben, in dem es um die Herausforderungen des selbstorganisierten Arbeitens und Nichtarbeitens geht.

Kathrin Passig

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