New Retail in China – ein Vorbild?

New Retail New Retail in China – ein Vorbild?

Publiziert am 02.06.2021 von Stephan Lamprecht, Journalist

Wer die neusten Entwicklungen im Handel beobachten will, sollte nicht länger auf die USA schauen. Die aktuellen Trends kommen heute aus China. «New Retail» ist so einer. Aber was ist das eigentlich genau?

Vor rund fünf Jahren tauchte erstmals der Begriff des «New Retail» auf, mit dem Jack Ma, Gründer und langjähriger CEO von Alibaba, seine Vision vom Handel der Zukunft beschrieb. Der Alibaba-Konzern gehört zu den grössten Treibern einer (technologischen) Revolution, die ein digitalisiertes Einkaufserlebnis im stationären Handel ermöglicht und die Grenzen zwischen Online und Offline verwischt. Auch JD.com, der grosse Konkurrent von Alibaba, verfolgt mit dem Konzept des «grenzenlosen Einzelhandels» eine ähnliche Strategie. Um ihre Vision umzusetzen, übernahmen beide Konzerne zunächst eine ganze Reihe klassischer Einzelhandelsunternehmen, die sie dann nach ihren Vorstellungen umbauten.

New Retail in einem Satz

«New Retail» integriert Online, Offline, Logistik und (Retail-)Technologie nahtlos in eine einzige Wertschöpfungskette, um der Kundschaft ein völlig neues Einkaufserlebnis zu bieten.

Wer die Interviews und Hintergrundgespräche rund um das Thema in den vergangenen Jahren verfolgt hat, erkennt einen wesentlichen Unterschied zu den Strategien grosser Handelsunternehmen in Europa. Bei «New Retail» ist nicht die Rede von «Multi-» oder «Omnichannel» – diese Trennung nach Kanälen spielt in dem Konzept keine Rolle.

Das Beispiel Freshippo (Hema)

Wie «New Retail» in der Praxis aussieht, lässt sich gut am Beispiel der ehemaligen Hema-Supermärkte, heute Freshippo, zeigen. Denn damit hat Alibaba ein ganz eigenes Einzelhandelsformat geschaffen, das mit dem klassischen Supermarkt, so wie wir ihn im Alltag kennen, wenig zu tun hat.

Der Name deutet es bereits an: Freshippo ist ein Format des Lebensmitteleinzelhandels, das einen Schwerpunkt auf frische Waren legt. Besonders fotogen sind hier die Aquarien in den Geschäften: Dort suchen sich die Kundinnen und Kunden den Fisch aus, den sie tatsächlich fangfrisch kaufen wollen. Die Kundschaft entscheidet hier, ob ihr der Fisch später im Rahmen der Lebensmittellieferung nach Hause geschickt wird. Oder ob sie das Stück direkt vor Ort im angeschlossenen Restaurant verspeisen will. In diesem Fall wandert der Fisch via Robotik in die Restaurantküche.

Zu jedem Artikel des Sortiments können die Kundinnen und Kunden weitere Informationen zum Produkt über QR-Codes am Produkt bzw. elektronische Regaletiketten (ESL) abrufen. Mit ESL können die Preise abhängig von verschiedenen Faktoren in Echtzeit angepasst werden. Bei den Zusatzinformationen zum Produkt werden Herkunft, Zutatenliste, Zusatzstoffe und Hersteller angegeben. Ausserdem liefert das System auf diesem Weg auch Produktempfehlungen.

Die Kundinnen und Kunden haben die Wahl, Produkte direkt in den physischen Einkaufswagen zu legen. Oder sie sind sich bereits sicher, dass sie die Waren lieber nach Hause geliefert bekommen wollen. Dann landen die Produkte in einem digitalen Warenkorb. Bezahlt wird an einem Terminal für den Self-Check-out. Bargeld wird hier nicht gebraucht. Es wird vorzugsweise via Alipay bezahlt, die Transaktion mittels Biometrie autorisiert.

Und wenn Heimlieferung gewählt wurde, sind die Produkte binnen einer halben Stunde auch bereits geliefert (zumindest in der direkten Nähe des Supermarkts).

Beim Pricing gibt es noch eine Besonderheit: Das System erkennt Produkte, nach denen die Kundschaft bereits online gesucht hat, und fördert die Kaufmotivation bei Bedarf durch einen Rabatt. Die Angabe einer Adresse für die Bestellung ist nicht nötig, denn durch die Bezahlung via Alipay sind die Stammdaten bereits bekannt.

Es braucht keine Erfahrungen als Handels- oder IT-Manager, um zu erkennen, welcher enorme technologische und logistische Aufwand hinter einem solchen Konzept steckt. Es zeigt aber auch, wie stark die Komponenten vernetzt sind und Daten miteinander austauschen.

Alibaba und JD setzen in ihren Stores auf die RFID-Technik. In ihren Warenhäusern und Modegeschäften wird es dank der automatischen Erkennung der Produkte möglich sein, diese virtuell via Augmented Reality auszuprobieren.

Und schliesslich darf ein Faktor nicht vergessen werden. Das ist die Unterhaltung. Legendär ist inzwischen der «Singles’ Day», eine riesige Verkaufsschau und Rabattschlacht. Hier legt sich gerade Alibaba stets ordentlich ins Zeug und strahlt live Online-Modeschauen aus. Die stehen unter dem Motto «See now, buy now». Die Kundinnen und Kunden können also mehr tun, als nur zuschauen. Sie bestellen direkt Produkte bekannter (vorzugsweise westlicher) Marken.

Die Basis des Erfolges

Abseits der Technologie ruht «New Retail» auf vier grossen Säulen. Und hier kann das Konzept tatsächlich eine Vorbildfunktion für Händler aus Europa haben:

  • Kundenorientierung: Das gesamte Angebot ist nicht aus Sicht des Händlers gedacht, sondern aus derjenigen der Kundinnen und Kunden und ihrer Bedürfnisse.
  • Bequemlichkeit: Jeder Baustein macht es der Kundschaft leicht und bequem, ihre Bedürfnisse zu stillen. Von der einfachen Suche, der Beratung am POS, der Entdeckung neuer Angebote bis zum Check-out.
  • Individualisierung: Vom Angebot bis zum Rabatt – das Einkaufserlebnis wird so gestaltet, als sei es ausschliesslich für die betreffende Person gemacht.
  • Kundenfeedback: Die Kundschaft kann sich via Social Media oder anderen Kommunikationskanälen beteiligen. Mit Rezensionen, Bewertungen, eigenen Beiträgen – egal, auf welchem Kanal.

Das Bindeglied in diesem Zusammenspiel von Technik und Service bildet das Smartphone, das im Alltag in China noch einen deutlich höheren Stellenwert besitzt als in Europa. Das haben wir an dieser Stelle auch schon unter dem Stichwort der «Super-Apps» thematisiert. Und hier setzen dann auch die kritischen Stimmen ein, die der Ansicht sind, dass sich das Konzept des «New Retail» so hierzulande nicht umsetzen lasse.

Richtig ist: Eine Super-App wie WeChat fehlt in der Schweiz und im europäischen Ausland. Aber: Alles, was Alibaba und JD in ihren Apps bündeln, wäre technisch auch in einer Händler-App möglich.

Und wenn die Kundschaft damit dermassen viele Vorteile erhielte, dürfte die Bereitschaft zur Installation einer solchen Lösung vorhanden sein.

Stephan Lamprecht, Journalist

Stephan Lamprecht begleitet seit zwei Jahrzehnten als Journalist und Berater das E-Commerce-Geschehen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

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