Diversifizierung Diversifizierung gegen Monopolisten
Heute ist Amazon ein gigantisches und alles verschlingendes E-Commerce-Unternehmen, das nahezu alle Standards dafür setzt, wie heute Onlinehandel funktioniert und von allen Beteiligten gespielt wird. Es ist der «Everything Store», der wirklich alles anzubieten scheint.
Diese umfassende Positionierung von Amazon erlaubt gleichzeitig allen anderen E-Commerce-Unternehmen einen unglaublichen Spielraum zur Differenzierung. Denn während Amazon sich zu 100 Prozent auf die operative Exzellenz fokussieren muss, um diesem unglaublichen Sortiment Herr zu werden, können schlaue E-Commerce-Unternehmen dies ausnutzen, um Themen wirklich in aller Tiefe zu besetzen und den «Everything Store» wie einen Steinzeitshop aus dem letzten Jahrhundert wirken zu lassen. Die entscheidende Frage ist daher: Was zeichnet die Verkaufskonzepte der Zukunft aus, die eine echte Differenzierung zu Amazon erlauben? Ich möchte hier die zwei wichtigsten Säulen vorstellen, die meiner Meinung essenziell sein werden:
1. Die Verkaufskonzepte der Zukunft bilden die Kern-DNA einer Branche ab
Diesen Aspekt erkläre ich ganz gerne anhand der Musikindustrie, in der es ein Spotify bis heute schafft, die gigantischen Player wie ein Apple Music oder ein Amazon Music auf Abstand zu halten. Denn während ein Apple oder ein Amazon sich damit begnügen, zu tracken, welches eure Lieblingssongs, -bands oder Musikrichtungen sind, schürft ein Spotify deutlich tiefer und analysiert jeden einzelnen Song, den ihr euch anhört, wie folgt:
- Was ist der Beat des Songs?
- Wie ist der Rhythmus des Songs?
- Wie sind die Stimmfarbe und die Tonhöhe des Songs?

Das heisst, sie zerlegen einen Song wirklich in seine wesentliche Essenz, und darauf basierend gleichen sie dann ihre gesamte Musikbibliothek darauf ab, welche anderen Songs einen ähnlichen Rhythmus oder Beat haben. Deswegen schaffen sie es, eine so unglaubliche Empfehlungsqualität zu liefern. Deswegen treffen sie so unfassbar gut den persönlichen Musikgeschmack. Deswegen sind sie in der Lage, so unfassbar gute Playlists zusammenzustellen, die perfekt zu meiner aktuellen Stimmung, dem Wetter (Regen oder Sonnenschein) oder einer Tageszeit (morgens zum Frühstück) passen. Unternehmen, die sich in einer Kategorie gegen ein Amazon behaupten wollen, werden sich also fragen müssen:
- Was ist eigentlich der Beat meiner Branche?
- Wie ist der Rhythmus meiner Branche?
- Was wären eigentlich die Stimmfarbe und Tonhöhe meiner Branche?
Für die Möbelbranche würde es bedeuten herauszufinden, wie gross ist eigentlich die Wohnung der Kundinnen und Kunden? Welche Aufteilung haben die einzelnen Räume? Wie hell ist die Wohnung? Wie ist die aktuelle Einrichtung? Handelt es sich um Altbau oder Neubau? Denn sind wir doch mal ehrlich, das sind die kaufentscheidenden Rahmenbedingungen, die bestimmen, für welchen Esstisch ich mich am Ende entscheiden werde.

Das heisst, für einen Onlinehändler wie XXXLutz wird es entscheidend sein, nicht einfach nur platt die längste Sortimentsliste an Esstischen aufzulisten, um sich gegen ein Wayfair oder ein Amazon behaupten zu können, sondern – ähnlich wie mir heute iOS ein Kontrollzentrum anbietet, um dort die Helligkeit oder Lautstärke meines Smartphones zu regeln –ein XXXLutz muss ein digitales Pendant anbieten, in dem die Kundinnen und Kunden mit Leichtigkeit ihre aktuelle Wohnung ausmessen und erfassen können, um darauf basierend die perfekte Empfehlung zu bekommen. D. h. die Kunst wird es sein, nicht einfach nur 1000 Esstische aufzulisten, aus denen dann die Kundinnen und Kunden mühsam herausfinden müssen, welche überhaupt zum eigenen Esszimmer passen. Sondern er wird nur dann eine Zukunft haben, wenn er in der Lage ist, aus diesen 1000 Esstischen genau die vier rauszupicken und mir zugänglich zu machen, die aufgrund der Masse meines Esszimmers sowie von der Optik perfekt hineinpassen. D. h. Guidance schlägt Angebot und das relevanteste Sortiment das grösste. Das bringt uns auch direkt zu der zweiten wichtigen Säule der Zukunft:

2. Die Verkaufskonzepte der Zukunft setzen auf Alltagsfrequenz anstatt Sortimentsfrequenz
Schaut man sich heute im westlichen Markt die hundert beliebtesten digitalen Dienste an, dann wird man schnell feststellen, dass nur einer (!) von diesen 100 Diensten ein E-Commerce-Unternehmen ist: nämlich der «Everything Store» Amazon. Der Grund dahinter ist so simpel wie einfach: Die beliebtesten digitalen Dienste wie bspw. Google Maps konzentrieren sich zu 100 Prozent auf die Lösung von Alltagsfragen. Dadurch schafft es Google Maps, bis zu sechs Reizpunkte am Tag zu setzen, weil es auf häufig auftretende Fragen eine unmittelbare Antwort liefern kann: Wie ist die aktuelle Verkehrssituation? Wie komme ich von A nach B? Wo liegt überhaupt B? Das ist auch der Grund, warum ein Dienst wie Google Maps nahezu auf jedem Smartphone installiert ist und einen prominenten Platz auf jedem Startbildschirm bekommt. Dagegen schafft es ein E-Commerce-Unternehmen wie ein Zalando, laut dessen letzten Geschäftsberichten, gerade einmal vier Reizpunkte im Jahr zu setzen, weil sie «lediglich» die Antwort zu deutlich seltener auftretenden Fragen liefern können wie: «Ich brauche eine neue Winterjacke», oder «Ich finde meinen alten Pullover langweilig».

Die E-Commerce-Branche meint, eine Antwort auf dieses Dilemma gefunden zu haben: Noch mehr Sortimente! Um nicht mehr nur noch diese eine Frage bedienen zu können («Ich brauche eine neue Winterjacke»), sollen weitere Antworten auf ähnliche, häufigere Fragen gegeben werden («Ich brauche neue Socken oder Boxershorts», oder zusätzlich «Mein Kind braucht neue Socken»). Das ist auch der Grund, warum nahezu alle E-Commerce-Player ein Marktplatz-Modell anstreben. Und das ist auch der Grund, warum alle versuchen, immer grössere Sortimente aufzubauen, um immer mehr Bedarfsdeckungsfragen abbilden zu können. Ein Amazon treibt dieses Modell dabei auf die absolute Spitze! Allein in Deutschland bietet es bis zu 250 Millionen (!) unterschiedliche Produkte an, um auch noch die letzte hirnrissige Bedarfsdeckungsfrage bedienen zu können.
Dieses Modell hat aber einen hohen Preis. Nicht nur stellt es eine unglaubliche hohe Anforderung an die operative Exzellenz, um diesem unermesslichen Sortiment Herr zu werden, gleichzeitig geht ein echtes Qualitätsversprechen verloren:
- Weil sich ein und dasselbe Produkt in den Ergebnislisten plötzlich zigfach wiederholt
- Weil man drei Produkte bestellt und «gefühlt» fünf unterschiedliche Pakete von sieben Zulieferern bekommt, die man alle woanders abholen darf, obwohl man zu Hause war
- Weil die Wertschöpfungskette nun von der Prozessqualität der Marktplatz-Teilnehmenden abhängig wird, die Amazon nicht mehr zu 100 Prozent im Griff hat und die nicht mit der gewohnten Zuverlässigkeit eines Amazon mithalten können
Gleichzeitig müssen alle Kategorien in ein Datenkorsett gezwängt werden, um diese unglaubliche Anzahl an Produkten überhaupt abbilden zu können. Es nicht mehr möglich, eine Kategorie so zu präsentieren, wie es eigentlich zielgruppen- und themengerecht wäre. Die Folge ist, dass die Art und Weise, wie ich einen Fernseher verkaufe, 1 zu 1 der Art gleicht, wie ich ein Parfum oder ein Kleid bewerbe.
Ich aber sage, dieses Modell ist eine Sackgasse. Es führt in eine absolute Beliebigkeit, in der sich ein E-Commerce-Player dem anderen gleicht. Es führt auch in einer zunehmenden Mangelwirtschaft, in der Prozessketten z. T. in sich zusammenstürzen, zu einem nicht mehr einhaltbaren Qualitätsversprechen (alles immer liefern zu können). Es ist auch im Hinblick auf die Überflussgesellschaft ein nicht mehr zeitgemässes Modell, das perspektivisch durch die Megatrends der Nachhaltigkeit und des sich zunehmend ändernden Verkaufsverhaltens der Menschen aufgrund des Klimawandels immer mehr aus der Zeit fallen wird.
Vor allem sage ich, dass es eine deutlich attraktivere und monetär interessantere Antwort gibt. Denn wir haben aus laufenden Innovationsprojekten eine wesentliche Erkenntnis gewonnen: Schaffe ich es als E-Commerce-Unternehmen, häufige Bedarfsdeckungsfragen (wie bspw. der Kauf von Schrauben oder einer Blumenerde) bei einem OBI durch digitale Alltagsservices zu ersetzen, die es mir erlauben, auch dann mit meiner Kundschaft in Kontakt zu bleiben, wenn sie nichts kaufen will, dann bringe ich meine Kundinnen und Kunden dazu, wenn sich eine wirklich attraktive Kaufentscheidung anbahnt (wie bspw. der Kauf eines Rasenmähers oder einer Motorsäge), diese mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bei mir zu tätigen. Gleichzeitig erschliesse ich mir eine Reihe von neuen, spannenden Geschäftsmodellen der Serviceökonomie, die deutlich attraktiver sind als die dünnmargigen und kleinteiligen Produktartikel des Alltags. Das ist auch der Grund, warum ein OBI über seine heyOBI App immer mehr digitale Services aufbaut wie bspw. einen digitalen Gartenpflegeplaner, der es schafft, über einen Zeitraum von ein bis drei Monaten wöchentlich mit den Kundinnen und Kunden in Kontakt zu bleiben. Zusätzlich schafft er es, eine echte Differenzierung zu seiner Konkurrenz aufzubauen, weil er die eigentliche Motivation und Ziele hinter dem Einkauf bedient, nämlich einen schönen Rasen zu haben. Dabei startet OBI bei seiner Kern-DNA: der Rubrik Garten, bei denen er von seiner Zielgruppe als besonders vertrauenswürdig angesehen wird, und dockt daran einen digitalen Dienst nach dem anderen an.

Das ist auch der Grund, warum ein Keller Sports mit dem Loyalitätsprogramm Keller sMiles nicht mehr Käufe belohnt, sondern den Grund dahinter, warum Menschen überhaupt bei Keller Sports einkaufen: nämlich Sport zu treiben. Dabei vergibt Keller sMiles regelmässig für erreichte Wochenziele, wie bspw. die 5 Kilometer mit persönlicher Bestzeit zu rennen, Punkte, die ich wiederum im Shop gegen einen günstigeren Preis eintauschen kann. Damit schlägt Keller Sports zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie finden als Marke im Alltag der Menschen statt – jedes Mal, wenn sie Sport machen – und werden damit zum ständigen Begleiter. Gleichzeitig lernen sie unglaublich viel über ihre Kundschaft, weil sie nicht nur wissen, wie häufig, sondern auch wo, wie lange und wie intensiv diese Sport treibt. Damit sind sie viel besser in der Lage, aus allen vorhandenen Laufschuhen den wirklich perfekten Laufschuh zu empfehlen. Gleichzeitig kann ich mich als Keller Sports auf weniger, dafür aber relevantere Produkte konzentrieren, die ich den Kundinnen und Kunden jederzeit super verargumentieren kann, weil dieser Schuh perfekt zu der persönlichen Art des Sportelns passt. Gleichzeitig reduziert es mein Einkaufsrisiko als Unternehmen, weil ich mich auf weniger Produkte konzentrieren kann, für die ich aber aufgrund einer höheren Menge bessere Konditionen aushandeln kann.
Zusammenfassung
Diese beiden Prinzipien werden am Markt zu einem völlig neuen E-Commerce-Spiel führen. Zu einem Spiel, in dem Guidance das Angebot schlägt und Alltagsfrequenz die Sortimentsfrequenz – in dem das relevanteste Sortiment das grösste schlägt und wo der Shop das Ende des Kundenkontakts ist und nicht der Einstieg.
Dabei werden die Player der Zukunft sich darauf konzentrieren, wirkliche Alltagsfragen der Kundinnen und Kunden zu lösen, so wie ein Freeletics mir einen Plan an die Hand gibt, um bestimmte Ziele zu erreichen wie bspw. fitter zu werden oder Muskeln aufzubauen. Oder wie ein Pinterest völlig neue kreative Fragen bedient, bei denen mir ein Amazon einfach nicht weiterhelfen kann, wie bspw. was ich zum Muttertag schenken kann.

Es ist dabei ein Leichtes für ein Freeletics, ein E-Commerce-Modell anzudocken. Gleichzeitig reicht es ihnen, wenn sie dabei nur drei unterschiedliche Workout-Matten anbieten anstatt eintausend wie ein Amazon. Auch müssen sie nicht fürchten, dass ihnen Amazon den Kundenkontakt abspenstig macht, finden sie doch schon als täglicher Begleiter im Alltag der Menschen statt mit einem Angebot, das ein «Everything Store» niemals abbilden kann. Den Spezialisten, die eine Kategorie wirklich für sich einnehmen sowie bis zur Kern-DNA vordringen und darauf basierend etwas wirklich Relevantes für den Alltag der Menschen anbieten können, gehört die Zukunft. Eine Zukunft, in der ein Amazon keine Gefahr ist und eine Zukunft, die monetär deutlich attraktiver ist, weil sie nicht mehr allein von den dünnen Handelsmargen lebt. Diese Zukunft ist dabei für jedes E-Commerce-Unternehmen erreichbar, solange es beginnt, sich mit dem Sinn sowie der Motivation dahinter zu identifizieren und startet, entsprechend digitale Angebote für seine Zielgruppen zu «stricken», anstatt sich lediglich über das Sortiment zu definieren. In diesem Sinne auf zu neuen E-Commerce-Ufern!
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